I
Deutsches Wörterbuch
des frères Jacob et Wilhelm Grimm : XIXe
siècle
PHÄNOMEN, n. im 18. jahrh. entlehnt aus franz. phénomène, m.
vom lat. phaenomenon, griech. φαινομενον, zunächst eine luft-, eine naturerscheinung, dann (nach der
lehre der skeptiker) überhaupt etwas den sinnen erscheinendes, im
engeren sinne eine neue, merkwürdige erscheinung :
welch
langsam phänomen durchstreicht des aethers wogen,
dort wo
Saturn gebeut ?
ist
es ? es ists, das jahr, das reuend uns entflogen,
es steigt
zur ewigkeit.
LESSING 1, 96 ;
weil hier (in einer
auswahl guter gedichte) die elemente (der poetik) noch nicht
getrennt, sondern, wie in einem ur-ei, zusammen sind, das nur bebrütet werden
darf, um als herrlichstes phänomen, auf goldflügeln in die lüfte zu steigen. GÖTHE 45, 334 ; man musz das
sonnenbild genug quälen, bis das phänomen ganz farbig erscheint. 54, 111 ;
an die stelle des phänomens (des lichtes) setzte man eine
erklärung : nun nannte man die erklärung ein factum, und das factum
zuletzt eine sache. 54, 124 ; von demjenigen, der die geschichte irgend
eines wissens überliefern will, können wir mit recht verlangen, das er uns
nachricht gebe, wie die phänomene nach und nach bekannt geworden. 53, XVII ; kein
phänomen erklärt sich an und aus sich selbst ; nur viele zusammen
überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, was für theorie gelten
könnte. 19, 176 H. ; die phänomene sind nichts werth, als wenn sie
uns eine tiefere, reichere einsicht in die natur gewähren, oder wenn sie uns
zum nutzen anzuwenden sind. 215 ; erklärung der phänomene des lebens. A. W. SCHLEGEL vorles. 2, 59, 4 neudruck ; auf geistige
erscheinungen und eigenschaften bezogen : es ist wahr, wir haben einen
Garrick gesehen, aber ein phenomen (auszerordentliche, merkwürdige
erscheinung) entscheidet nichts. STURZ 2, 170 ; Herder .. ist ein phänomen von geist, und im grunde sind
diese erscheinungen in Teutschland selten. GÖTHE an Öser (1769), d. j. GÖTHE 1, 58 ; was man motive nennt, sind also eigentlich phänomene des
menschengeistes. werke 56, 147 ; es gibt gewisse phänomene der
menschheit, die man mit dieser benennung ('eigenheiten') am besten ausdrückt.
45, 300 ; nach solcher erklärung begreifen wir vielleicht noch grellere
phänomene des tages, die uns so tief betrüben. H. HEINE 5, 258. -- davon
p h ä n o m e n o l o g i e ,
f. die lehre von den erscheinungen, nach KANT (8, 452. 554 ff.) jener theil der naturlehre, welcher die
bewegung oder ruhe der materie blosz in beziehung auf die vorstellungsart oder
modalität, mithin als erscheinung äuszerer sinne bestimmt ; in ähnlicher
weise nennt HEGEL die
lehre von dem erscheinungswesen des geistes in seiner stufenweisen
herausbildung zu einem in sich vollendeten wesen 'phänomenologie des
geistes' (Bamberg 1807).
ERSCHEINUNG, f., ein heute viel
gebrauchtes wort,
1) sichtbarwerdung, mit
der idee des lichtes, glanzes im hintergrund, göttliche, geisterhafte. die
erscheinung unseres heilandes 2 Tim. 1, 10 ist goth. gabairhtei
nasjandis unsaris, gr. επιφανεια, vulg. illuminatio. ebenso die erscheinung des engels,
geistes, des gespenstes, teufels. er hat erscheinungen, glaubt an
erscheinungen, nächtliche erscheinungen, traumgesichte : du hast
erscheinungen meine tochter ! GOTTER 3, 119 ; sie fiengen nun an von ahnungen, erscheinungen und
dergleichen zu sprechen. GÖTHE 18,
318 ;
ach die erscheinung war so riesengrosz,
dasz ich mich recht als zwerg empfinden sollte.
12, 39.
leicht
wendet sich diese dargebung des höheren auf das schöne, liebliche, anmutige
menschlicher natur, eine liebliche erscheinung, die gestalt, δεμας, species selbst, φαινομενον : der könig liebkosete dem schönen kinde und aller augen waren auf
die erscheinung hingerichtet. TIECK ges.
nov. 4, 335 ; sie war eine vorübergehende erscheinung, gleich dem
gestirn, das wieder verschwindet. vgl. lufterscheinung, traumerscheinung.
2) wirklicher eintritt,
vortritt, ankunft, gegenwart,
a) die erscheinung, brechung,
refraction der farben, strahlenbrechung, emicatio.
b) erscheinung einer
bestimmten zeit : bei erscheinung des angesetzten jahres, monats,
tages ; erscheinung der frist, des termins.
c) auftritt,
kunft : bis auf die erscheinung unsers herrn. 1 Tim. 6, 14, wo
der urtext wieder επιφανεια, die vulg. aber adventus und auch ULFILAS hat und qum fraujins, ebenso : allen die seine
erscheinung lieb haben (allaim þaiei frijônd qum is). 2 Tim. 4, 8 ;
bei erscheinung des feindes flohen die leute aus der stadt in den wald ;
die erscheinung der cholera im land erschreckt alle menschen ; eine grosze
gesellschaft seiltänzer machten, indem sie sich auf eine öffentliche
erscheinung bereiteten, einen unfug über den andern. GÖTHE 18, 141. erscheinung heiszt technisch, was fr. comparution, it.
comparita, comparizione, das erscheinen, sich stellen vor gericht.
d) veröffentlichung,
bekanntmachung eines werks : da es seit erscheinung des Idris und
Oberon zur ausgemachten wahrheit geworden ist, dasz die achtzeiligen stanzen
für das grosze einen ausdruck haben. SCHILLER 28a ; von deutschen
productionen war mir Olfried und Lisena eine höchst willkommene erscheinung. GÖTHE 32, 176 ; die lebhafte
sensation, welche dieses stück bei seiner erscheinung erregte. 32, 205.
e) überhaupt
manifestation : zur erscheinung kommen, anschaubar werden, zur
erscheinung bringen, vorführen, thatsächlich bewähren ; reife
kritik, bei deren erscheinung alle streithändel von selbst wegfallen müssen. KANT 2, 562 ; bracht ich nun
nach seiner vollendung dieses dreifache werk (Wallenstein)
gemeinschaftlich mit meinem freunde auf das theater, erduldete ich ... den
verdrusz, dasz denn doch zuletzt nicht alles gehörig zur erscheinung gelangte. GÖTHE 46, 266 ; jede grosze
idee, sobald sie in die erscheinung tritt, wirkt tyrannisch. 22, 241 ;
wenn ein organisches wesen in die erscheinung hervortritt. 50, 64 ; spreu
von geriebenem bernstein angezogen, steht mit dem ungeheuersten donnerwetter in
verwandtschaft, ja ist eine und dieselbe erscheinung. 50, 73 ; dann
verwirft er wieder die veränderung an den dingen als eine erscheinung der
erscheinungen. 20, 30.
3) im
gegensatz zur zweiten bedeutung, welche die verwirklichung einer sache oder
eines zustandes ausdrückt, und im anschlusz an die erste, die den bloszen
teuschenden schein enthalten kann, verwendet der philosophische sprachgebrauch
erscheinung von den gegenständen, insofern sie nicht als dinge an sich
selbst, sondern als sinnliche anschauungen erfaszt werden. so bei KANT häufigst : der
unbestimmte gegenstand einer empirischen anschauung heiszt erscheinung. 2,
60 ; was gar nicht am objecte an sich selbst, jederzeit aber im
verhältnisse desselben zum subjecte anzutreffen und von der vorstellung des
ersteren unzertrennlich ist, ist erscheinung. 2, 85.