"REICH, Mode d'emploi”
Editions Champ libre,
Paris 1971.
Aus dem Französischen:
Projektgruppe Gegengesellschaft,
Düsseldorf.
"Das Ding enthält im zweiten Teil, in
außerordentlich gedrängter, but relatively popular form, viel Neues, das aus
meinem Buch (1) vorweggenommen ist, während es zugleich doch notwendigerweise über
allerlei wegschlüpfen muß. Frage, ob es rätlich, dergleichen in solcher Weise
vorwegzunehmen?"
Brief von Marx an Engels, 24.6.1865.
I. Der Charakterbegriff nach Reich
"Um in Paris die Liebe zu finden, muß man
sich hinab bis zu den Klassen begeben, denen das Fehlen der Erziehung und der
Einbildung mehr Energie gelassen haben. Sich mit einem starken unerfüllten
Verlangen zu zeigen heißt, sich unterlegen zu zeigen, was in Frankreich
unmöglich ist, außer bei den Leuten, die ganz unten stehen, ... daher die
übertriebenen Lobreden auf die Mädchen aus dem Mund der jungen Männer, die ihr
Herz fürchten."
Stendhal, "Über die Liebe".
Durch den praktischen und theoretischen Kampf
gegen die Widerstände in der Analyse gelangte Reich mit völliger Konsequenz zu
der Auffassung, daß der Charakter (die Charakterneurose) die Form selbst dieser
Widerstände ist (2). Im Gegensatz zum Symptom, das man als Produkt und Konzentration des
Charakters anzusehen hat und das als Fremdkörper empfunden wird und ein
Krankheitsgefühl erzeugt, ist der Charakterzug in die Persönlichkeit organisch
eingebaut. Die Tatsache, daß die Krankheitseinsicht fehlt, ist ein Grundmerkmal
der Charakterneurose. Das erklärt, daß dieser Verfall der Individualität erst
bei dem Versuch einer Kommunikation zum Vorschein kommen konnte; die
analytische Technik selbst sollte, so einseitig sie auch ist, schnell den
Charakter als das enthüllen, was er ist: eine Abwehr der Kommunikation, ein
Ausfall der Fähigkeit zur Begegnung. Das ist der Preis, der für die
Grundfunktion des Charakters, die Abwehr der Angst, gezahlt wird (3)- Wir
brauchen uns nicht über den Ursprung der Angst auszulassen, über ihre Gründe
und deren Fortbestehen. Sagen wir nur, daß die besondere Form des Charakters
eine Verhärtung ist, die man vor dem zehnten Lebensjahr erhält, was
niemanden überraschen wird.
Die Unauffälligkeit dieser Haltung erklärt ihre
Unkenntnis als soziale Pest und somit ihre dauerhafte Wirksamkeit. Diese
Haltung erzeugt verkümmerte Individuen, die kaum noch Intelligenz, Geselligkeit
und Sexualität aufbringen, und die infolgedessen wirklich unabhängig
voneinander sind, was ideal für das optimale Funktionieren des automatischen
Systems des Warenverkehrs ist. Die Energie, die das Individuum gebrauchen kann,
um zu erkennen und erkannt zu werden, ist im Charakter gebunden, das
heißt sie wird dazu gebraucht, sich selbst zu neutralisieren.
In allen Gesellschaften, in denen die modernen
Produktionsbedingungen herrschen, erhält die Unmöglichkeit zu leben individuell
die Form des Todes, des Wahnsinns oder des Charakters. Mit dem unerschrockenen
Doktor Reich und gegen alle, die ihn erschrocken zu integrieren oder zu
entstellen versuchen, postulieren wir die pathologische Natur jedes
Charakterzuges, das heißt alles Chronischen im menschlichen Verhalten. Worum es
uns geht, das ist nicht die individuelle Struktur unseres Charakters oder die
Erklärung seiner Bildung, es ist seine Unbrauchbarkeit für die Konstruktion
von Situationen. Der Charakter ist also nicht einfach ein krankhafter
Auswuchs, den man getrennt behandeln könnte, er ist zugleich ein individuelles
Heilmittel in einer global kranken Gesellschaft, ein Heilmittel, das das Übel
erträglich und dabei schlimmer macht. Die Leute sind in großem Maße Komplicen
des herrschenden Spektakels. Der Charakter ist die Form dieser Komplicenschaft.
Wir unterstützen die Auffassung, daß die Leute
ihren Charakter nur auflösen können, indem sie in Opposition zu der ganzen
Gesellschaft treten (wir wenden uns insoweit gegen Reich, wenn er die
Charakteranalyse von einem spezialisierten Blickpunkt aus betrachtet); während
die Funktion des Charakters darin besteht, sich auf den Stand der Dinge
einzustellen, ist seine Auflösung eine Vorbedingung für die globale Kritik der
Gesellschaft. Dieser Kreislauf muß durchbrochen werden.
Die globale Opposition beginnt mit der aktiven
Kritik der Lohnarbeit (4) nach einem Grundprinzip, das außer Diskussion steht: "Arbeitet
nie". Die für ein solches Unternehmen absolut notwendigen
Abenteuereigenschaften schließen den Charakter aus. Der Charakter ist der Ruin
dieser Eigenschaften. Das Problem der Opposition gegen die ganze Gesellschaft
ist folglich auch das Problem der Auflösung des Charakters.
II. Seine Anwendung auf die Wirkung des Spektakels
"Die wichtigsten und wahrsten Konzepte der
Epoche werden gerade an der Erzeugung der größten Verwirrung über sie und der
schlimmsten Verkehrungen ihres Sinns gemessen. (...) Von den vitalsten
Konzepten wird der wahrste und zugleich der verlogenste Gebrauch gemacht, (...
) weil der Kampf der kritischen Wirklichkeit gegen das apologetische Spektakel
zu einem Kampf führt, der über die Worte geht. (... ) Nicht die autoritäre
Säuberung enthüllt die Wahrheit eines Konzepts, sondern der Zusammenhang seines
Gebrauchs, in der Theorie und dem praktischen Leben."
'Internationale
Situationniste',
Nr. l0, 1966.
Publik: "öffentlich, bekannt".
Publizität: "Öffentlichkeit, öffentliches Interesse,
Propaganda".
"Hansens Universallexikon".
Die Publizität des Elends unterscheidet sich nicht
von der Idee seiner Abschaffung (5). So kommt der Geist zu den Menschen. Das Elend
ist immer das Elend der Publizität. Wir müssen daher die Gründe für das
Fortbestehen des Elends in dem suchen, was das Elend der Publizität verursacht.
Der Fetischismus ist das Elend der Publizität. Er
ist die Form selbst der sozialen Trennung. Überall, wo sich die Individuen und
ihre Totalität gegenüberstehen, erhält diese Opposition die Form des
Fetischismus der Totalität. Die Opposition zwischen dem Ganzen und den
Individuen erfolgt mittels einzelner Teile des Ganzen, die isoliert oder
in phantastischer Beziehung zu dem Ganzen und zueinander erscheinen (6). Das
getäuschte Bewußtsein ist das wesentliche Moment des Fetischismus. Durch das
getäuschte Bewußtsein werden die Dinge zu dem, was sie zu sein scheinen. Das
Fehlen des Bewußtseins erhält die Form des Bewußtseins.
Der Fetischismus der Ware ist in ihrem Wert
konzentriert. Marx brauchte die paar tausend Seiten des "Kapitals",
um mit der Wirklichkeit dieses Fetischismus fertig zu werden. Das Joch des
Wertes ist es, das auf allen Köpfen lastet, ob sie nun bürgerlich, bürokratisch
oder proletarisch sind. Der Wert ist das Verhältnis zweier Quantitäten
zueinander. Was ist phantastischer, als daß hier und jetzt 'x' Kilogramm
Karotten 'y' Liter Bier oder gar 'z' Minuten Friseur wert sind. Der Wert ist
hier und jetzt die extravagante Autonomie der Ware. Es ist gefährlich, zu
stehlen, zu plündern oder Feuer zu legen. Noch gefährlicher ist es, nie zu
arbeiten! Der Wert setzt sich unerbittlich durch (7), während der getäuschte Blick nur den Dingen und
ihrem Preis begegnet.
Im 19. Jahrhundert sind mit dem vollendeten
Gegensatz zwischen dem Leben des Individuums und dem Leben seiner Art (dem Alltagsleben
einerseits und dem automatischen Warenverkehr andererseits) alle Hoffnungen
berechtigt (die von Hegel und die von Marx). In diesem Stadium liegen die Dinge
klar: das Alltagsleben ist nichts, der Verkehr alles. Das Nichts des
Alltagslebens ist ein sichtbares Moment des Ganzen des Verkehrs. Der
Fetischismus täuscht nur noch die herrschende Klasse und ihre Denunzianten. Mehrere
Male setzt das Proletariat zum Sturm auf die Totalität an, und beinahe hätte
die Publizität des Elends über das Elend der Publizität triumphiert.
Heute liegen die Dinge sehr viel anders. Die
Modernisierung der Kämpfe der Unterdrückten, und vor allem die Tatsache, daß
sie unvollendet geblieben sind, haben von 193o an zu einer schnellen
Modernisierung des Fetischismus durch die herrschende Klasse und ihren Staat
geführt. Das Auftreten des wissenschaftlichen Fetischismus war recht
bemerkenswert: New Deal, Bolschewismus und Nationalsozialismus gleichzeitig. Diese
Modernisierung besteht wesentlich darin, dem Alltagsleben das zu entziehen,
was ihm geblieben war: seine Negativität, das heißt die Publizität seines
Elends, die Publizität seiner Nichtigkeit. Das Geheimnis des Elends des
Alltagslebens ist das wahre Staatsgeheinmis. Das ist der Schlußstein, der das
Gebäude der Trennung zur Vollendung bringt, das auch das Gebäude des Staates
ist.
Das Spektakel, oder die wissenschaftliche
Entwicklung des Fetischismus, ist nichts als das Privateigentum an den
Publizitätsmitteln, das Staatsmonopol der Erscheinung. Mit ihm bleibt allein
der Warenverkehr publik. Das Spektakel ist nichts als der Warenverkehr, der
alle verfügbaren Publizitätsmittel absorbiert und dadurch das Elend zur
Unsichtbarkeit verurteilt. Das Spektakel ist die geheime Form des publiken
Elends, wo sich der Wert unerbittlich durchsetzt, während der getäuschte Blick
nur den Dingen und ihrem Gebrauch begegnet.
In der imperialistischen Publizität des
Warenverkehrs tritt der Wert nie in Erscheinung. Sie ist das Spektakel der
Unsichtbarkeit des Wertes. Diese "natürliche" Unsichtbarkeit bildet
die zutiefst spektakularistische Tendenz des Verkehrs, die die Bourgeoisie bei
der wissenschaftlichen Entwicklung des Fetischismus ausnutzen konnte. Der
Verkehr kann als großer Rummel des Gebrauchs erscheinen, sofern der Wert nicht
auf andere Weise publik ist; des Gebrauchs des Geldes hauptsächlich, versteht
sich. Von daher ist die Faszination des Zuschauers leicht verständlich, der
täglich mit dem Wert konfrontiert wird. Das ist die Wirkung des Spektakels. Sie
kommt jeder Idee zuvor: alles scheint vollendet. Sie verbietet jedes Erkennen:
der Elende kennt sich als der einzige Elende. Der Gebrauch des Geldes erscheint
in sich als das Instrument der Aufhebung des Wertes. Gipfel der Verkehrung. So
kommt der Geist nicht zu den Menschen.
Von seinem Logenplatz aus mußte Reich die Rolle
frappieren, die der Charakter als anti-individuelle Struktur bei der
großartigen Nazi-Inszenierung spielte (8). Er überläßt die burleske Frage "Warum
revoltieren die Arbeiter?" den Psychoanalytikern, Psychiatern, Soziologen
und anderen Dienern des Spektakels und stellt dafür die grundlegende Frage:
"Warum revoltieren sie nicht!" (9). Er schreibt die Unterwerfung der Vernichtung des
Individuums durch den Charakter zu. Was kaum bestritten werden kann. Aber nicht
ausreicht. Zu sagen, daß diese Gesellschaft keine zutiefst spektakularistische
Tendenz besäße, hieße zu behaupten, daß das Spektakel allein das große Werk der
herrschenden Klasse sei. Damit würde man ihr viel Talent zusprechen. Wir
wissen, daß die herrschende Klasse das erste Opfer ihrer eigenen Illusionen
ist. Sie folgt der Bewegung.
Wir haben weiter oben den Grund für diese Tendenz
genannt. Der Charakter ist davon abgesehen unbestreitbar real. Er zeichnet sich
klinisch ab. Jetzt müssen wir wissen, wovon er nun genau die Klinik ist,
nachdem wir erst einmal festgestellt haben, daß er als getrennter Begriff nicht
ausreicht. Als getrennter Begriff ist er nur wieder ein Fetisch.
Unsere These ist die folgende. Das Quantitative
herrscht. Alle menschlichen Beziehungen werden von der Beziehung von
Quantitäten zueinander beherrscht, erscheinen aber nichtsdestoweniger als reine
menschliche Beziehungen; oder: der getäuschte Blick begegnet nur den Dingen und
ihrem Preis. Wir haben schnell die spontan spektakularistische Wirkung dieser
ganz "natürlichen" Gegebenheit erkannt, die die Unsichtbarkeit des
Wertes ist. Das hindert nicht daran, daß der Wert von jedem ständig als die
unausweichliche Notwendigkeit seines Alltagslebens erlebt wird. Wir haben
gesehen, daß dieses geheim Erlebte die spektakularistische Tendenz des
Warenverkehrs vollendete. Was ist das, was Reich klinisch herausfindet und
Charakter nennt? Wir behaupten, daß es der Wert als unmenschliche und auf
andere Weise nicht sichtbare Notwendigkeit ist, der damit erfaßt wird. Das ist
bis heute Oberhaupt der einzige Weg konkreter Annäherung an den Wert als
geheimes Elend der Individualität. Reich spürte unter dieser Form das Unbewußte
auf, sein Elend und seine elenden repressiven Instanzen, die ihre Stärke
und ihren magischen Apparat nur von dem Imperium des Wertes ableiten, das über
dem Alltagsleben steht. Nur weil die universelle Sozialisierung der
menschlichen Beziehungen die einzige Form des Wertes angenommen hat, der
ihre Negation ist, sind die echten menschlichen, von der Lust
besiegelten Beziehungen in dieser Sozialisierung aufbewahrt (10), als natürliche
Beziehungen von Mensch zu Mensch, die insoweit unerlaubt und heimlich sind,
denn alle Gesellschaftlichkeit, die ganze Menschheit ist vom Wert besetzt (im
Sinn Lyauteys), der einzigen erlaubten Sozialisierung. Was dem Gesetz des
Wertes zu entgehen sucht, nimmt folglich die Form des Natürlichen an,
das heißt per Definition die Form dessen, was der Beherrschung durch die
Menschheit entgeht.
In seinem dritten philosophischen Manuskript mißt
Marx die Menschlichkeit des Menschen, seine Sozialisierung, an dem
Sozialisierungsgrad des "unmittelbaren, natürlichen, notwendigen"
Verhältnisses des Menschen zum Menschen: des Verhältnisses des Mannes zum Weib.
Der Wert als universelle Sozialisierung, als einzige und verkehrte Form des
menschlichen Wesens, ist ebenso die Unmöglichkeit der Sozialisierung dieser
Beziehung, die folglich die "natürlichste”, das heißt die am meisten von
dem herrschenden Gemeinwesen behinderte Beziehung bleibt. Im Schoß der
universellen Sozialisierung durch den Wert fällt dieses Natürliche mit seinem
Verfallgrad (11) zusammen, genau wie der Grad der Natürlichkeit der Nambikwara Indianer im
Schoß unserer Zivilisation mit dem Grad ihrer Ausrottung zusammenfällt. Dieser
Verfallgrad - Psychose, Neurose, Charakter - als Anzeichen der Nicht-Sozialisierung,
der Unmenschlichkeit des Menschen ist der wirkliche Gegenstand der
Psychoanalyse. Dieser alte Schweinehund von Freud ging sogar soweit, daß er
diesen Grad von Natürlichkeit mit der Wildheit und diese durch den Wert
verkehrte Sozialisierung mit der Zivilisation identifizierte. Die Psychoanalyse
war und ist die Paläontologie dieser Vorgeschichte.
Wir stützen unsere noch rein theoretische These
auf folgende klinische Beobachtung. Wenn ein zufälliger Umstand zur Auflösung
des Charakters führt, wird die phänomenale spektakuläre Form der Totalität in
ihrem Anspruch zerstört, als das Fehlen des Wertes durchzugehen. Wir haben
also, im Augenblick negativ, eine Identität des Charakters und der Wirkung des
Spektakels festgestellt.
Ob das Subjekt dem Wahnsinn erliegt, ob es die
Theorie praktiziert oder sich an einem Aufstand beteiligt (12), wir
haben jedesmal festgestellt, daß die zwei Pole des Alltagslebens - der Kontakt
mit einer beengten und getrennten Wirklichkeit einerseits und der spektakuläre
Kontakt mit der Totalität andererseits - gleichzeitig aufgehoben werden, um der
Einheit des individuellen Lebens Platz zu machen, was Reich ärgerlicherweise
Genitalität nennt. (Wir ziehen Individualität vor.)
Die Arbeiten von Reich sind seit Marx die ersten,
die konkret Licht auf die Entfremdung werfen. Die Theorie des Spektakels ist
seit Marx die erste, der es darum geht, eine Theorie der Entfremdung zu sein. Die
Synthese dieser zwei Methoden hat unmittelbare Konsequenzen, die wir demnächst
entwickeln werden.
Zunächst sind wir der Auffassung, daß sich die
Praxis der Theorie nicht von der Genitalität unterscheidet wie sie Reich
auffaßt.
Die Theorie wird das fortwährende Kennen des
geheimen Elends, des Geheimnisses des Elends. Sie ist deshalb auch für sich
allein schon das Aufhören der Wirkung des Spektakels. Da das Spektakel die
geheime Form des publiken Elends ist, hört seine Wirkung auf, sobald sein
Geheimnis aufhört. Seine Wirkung liegt in seinem Geheimnis. Die Theorie fällt
folglich mit der gelebten Möglichkeit zusammen (Pleonasmus, im Gegensatz zur
Wahrscheinlichkeit, die als Zweifel oder Gleichgültigkeit erlebt wird). Die
Theorie, das ist das Leben, wenn alles möglich ist. Sie hört zu
existieren auf, sobald sie sich irrt, und findet sich wieder in der Langeweile,
unter der Wirkung des Spektakels. Die Theorie ist, wenn sie existiert, folglich
sicher, daß sie sich nicht irrt. Die Theorie ist ein Subjekt, das frei von
Irrtum ist. Sie läßt sich von nichts täuschen. Ihr einziger Gegenstand ist die
Totalität. Die Theorie kennt das Elend als insgeheim publik. Sie kennt die
geheime Publizität des Elends. Alle ihre Hoffnungen sind berechtigt. Der
Klassenkampf existiert.
Das Spektakel ist das Fehlen des Geistes, der
Charakter ist das Fehlen der Theorie.
Das Proletariat wird sichtbar sein, oder es wird
nicht sein. Das Proletariat besteht in seiner eigenen Sichtbarkeit. Die
Organisation des Proletariats ist die Organisation seiner Sichtbarkeit. Die
globale Praxis des Proletariats wird seine permanente Publizität sein
oder nichts. Das haben Hitler, die Leninisten und die Maoisten so gut
begriffen, daß sie die Sichtbarkeit des Proletariats mit Gewalt
organisierten. Der Kapitalismus ist ehrgeiziger, wenn er die Sichtbarkeit des abgeschafften
Proletariats herstellen möchte.
Die Sichtbarkeit des Elends allein ist nicht das
Proletariat. Sie ist notwendig, reicht aber nicht aus; sie kann nur die Theorie
sein. Das Proletariat fordert, daß die Sichtbarkeit des Elends publik ist. Die
Kritik muß zugleich Theorie der Publizität (der Sichtbarkeit) und Publizität
(Sichtbarkeit) der Theorie sein. Ihr Gegenstand muß für ihre Publizität
sorgen. Erst wenn sie publik ist, irrt sie sich nicht. Sie ist nicht die
Theorie der Publizität, wenn sie nicht für ihre Publizität sorgt. Für einen
Theoretiker der Publizität ist es der Gipfel der Lächerlichkeit, wenn er nicht
für die Publizität seiner Theorie zu sorgen vermag.
Das Proletariat ist die schließlich verwirklichte
Einheit der Theorie der Publizität und der Publizität der Theorie.
Wir glauben, daß diese Bemerkungen all dem
überlegen sind, was ein Lukács über das Klassenbewußtsein zu sagen vermochte. Sie
haben unbestreitbar den Vorteil der Kürze. Die Werbeleute wissen das, auf die
Kürze kommt es an für die Publizität. "Tanz mal wieder" - lautet eine
der jüngsten Aufforderungen an die Deutschen (13). Man
kann die Geringschätzung nicht kürzer zum Ausdruck bringen. Was sie sich nicht
vorstellen können ist, daß dieser Ausdruck bei einem Straßburg der Betriebe (14) noch
kürzer sein wird. Die Sichtbarkeit wird blitzartig sein - Schuß und
Sonnenaufgang -, oder sie wird Oberhaupt nicht sein.
Im Augenblick haben unsere Formeln vielleicht nur
die Kürze für sich. Der Tanz selbst muß erst losgehen, damit sie ihre ganze
Klarheit kennen. Ein Tag wird kommen, der nicht mehr fern ist, wo alle
Tanzmeister der Welt nicht mehr die Begegnung der Theorie der Publizität mit
der Publizität der Theorie verhindern können.
Fußnoten:
(1)
Das 'Institut de Préhistoire Contamporainet' (Paris, Postf. 20-05) bereitet zur
zeit vor: "Encyclopédie des Apparences/Phénoménologie de l'Absence de
l'Esprit".
(2)
"Charakteranalyse”, 1933.
(3) Die
kritische Situation, in der sich der Preis für diese Abwehr voll ermessen läßt,
ist die Liebe. Es war ebenfalls das Verdienst Reichs, daß er zeigte, daß die
Charakterabwehr der Angst in dieser Situation mit der Unfähigkeit zur
Zärtlichkeit bezahlt wird, die er ärgerlicherweise orgastische Impotenz nannte.
Auf dieser Ebene trifft sich der Charakter mit dem Symptom.
(4)
Während Reich auf sehr zweifelhafte Weise zu der Auffassung gelangte, daß der
Charakter ein Hindernis für die Arbeit ist, behaupten wir, daß der Charakter
ein Hindernis für die Kritik der Arbeit ist.
(5) Der
Leser wird hier das Klassenbewußtsein erkannt haben. Er wird es deshalb nicht
mit dem Spektakel des Elends verwechseln, das die Werbe-Version der Publizität
des Elends ist.
(6) Die
Opposition des Ganzen zu den Individuen erfolgt, leider, mittels einzelner
Teile des Ganzen. Wenn die Opposition der Individuen zu der Totalität
"total" wird, werden die Dinge ganz klar.
(7) Der
Arbeiter hat gegenüber dem Reichen den gleichen Vorteil wie der Sklave
gegenüber dem Herrn. Der Sklave kennt die Furcht; der Arbeiter, die lebende
Ware, kennt den Wert.
(8)
"Was ist Klassenbewußtsein?" 1934 (unter dem Pseudonym Ernst Parell).
In diesem Büchlein erreicht Reich den Gipfel
leninistischer Naivität. Er hebt dort, obwohl er es abstreitet, das
spezialisierte geschichtliche Wissen in den Himmel. Man stößt dabei sogar auf
einen seltsamen Entwurf einer maoistischen Erziehungskonzeption als Spektakel
des Blends. "Massenpsychologie" und "Dialektischer
Materialismus" sind durchzogen von einer mechanistischen Konzeption der Instinkte.
"Massenpsychologie des Faschismus",
1933/34.
(9)
"Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse", 1929.
(10) Nach
dem Prinzip: "Was nicht aufgehoben wird, stirbt ab, was abstirbt, reizt
zur Aufhebung", Raoul Vaneigem, "Handbuch der Lebenskunst für die
jungen Generationen".
(11) Das
Jahr 1968 hat uns zufälligerweise ein überreiches und sehr verschiedenartiges
Material geliefert.
(13)
Unverschämte Anzeige des Deutschen Sportbundes.
(14) Der
Skandal von Straßburg wurde 1966 damit eingeleitet, daß die gewählten
Studentenvertreter sämtliche Gelder entwendeten und für den Druck der Broschüre
"Das Elend der Studenten" benutzten (Anm. d. übers.).
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